Kopfüberleben
Zuhause weg von Zuhause
Mein Konzept für die ACC-Ausstellung war geprägt von einem wachsenden Gefühl, nach zwanzig Jahren Abwesenheit von Deutschland das Zuhause zu verlieren. Als ich mich in Kairo, meiner Wahlheimat seit 2012, immer vertrauter fühlte, begann ich darüber nachzudenken, wie ich Heimat in all ihren Verstrickungen jenseits der Vorstellung eines physischen Raums oder geographischen Ortes definieren könnte. Ich orientierte mich am Konzept der Homing Devices von Sara Ahmed und begann mit täglichen Zeichnungen und Fotografien, um herauszufinden, was Heimat bedeutet: "Wie belegen wir den Raum zu Hause als Heimat, wenn wir unser Zuhause verlassen?"
Bei dieser Untersuchung wurde mein Körper zu einem entscheidenden Indiz (corpus delicti) dafür, dass ich mich in der Welt ohne mein Zuhause zuhause fühle. Indem ich auf den individuellen, sozialen und politischen Körper achtete, der "seine Gedanken, Gefühle, Bedeutungen und Erinnerungen in den Raum einschreibt und sich dabei transformiert" (Reena Tiwari), begann ich durch konkretes Nachfragen etwas über die Beziehung anderer Menschen zu ihrem Körper herauszufinden. Auf der Suche nach Körper-zu-Hause
Meine Diagnose von Brustkrebs 2019 zwang mich brutal, meine bisherige Existenz, die Vorstellung des Körpers als Zuhause und mein ausgewähltes Zuhause als Ort zum Verweilen und Heilen zu überdenken. In einem Schockzustand verließ ich Kairo und begann eine anderthalbjährige Behandlung in Berlin. In dieser Zeit, geprägt von physischen und psychologischen Veränderungen, habe ich meine Homing Devices neu erfinden müssen, um einen Sinn für ein derart unsicheres, unzuverlässiges Körper-zu-Hause zu finden. Tagebuch-schreiben wurde zu einem Instrument, um aufzuzeichnen und zu verstehen, was mit mir geschah.
«Ich bin geschockt, ich vergaß meine Tränen in der Eingangshalle vom Krankenhaus. Verdränge ich Momente zu schmerzhaft zu erinnern? Gibt es andere Momente, die ich aus meiner Erinnerung gelöscht habe? Wie schneide, trimme und bearbeite ich Erlebtes? Wie verändert sich meine Geschichte durch das Aufschreiben? Muss ich viel genauer und regelmäßiger schreiben, um einzufangen was mit mir passiert?» (Tagebuch 27.12.2019) Die entstandenen Arbeiten sind nicht nur ein Einblick in die Erfahrung, in der Nähe des Todes zu verweilen, sondern der Essenz des Lebens näher zu kommen. Fotografieren, Formen, Zeichnen und Schreiben wurden Ausdrucksmittel und Lebensweise, intime Zeugnisse von Fragilität und Resilienz aus einer Zeit des Kopfüberlebens. Während der Therapie trat ich immer wieder vor die Kamera, um in Selbstporträts meinen sich radikal verändernden Körper zu dokumentieren. Zum Zeitpunkt der Diagnose fühlte ich mich kerngesund und war sterbenskrank. Nach sieben Monaten Chemotherapie fühlte ich mich sterbenskrank, ohne zu wissen, ob ich wieder gesund werde. "Heilung ist ein mysteriöser Ort, man kann sich auf dem Weg leicht verirren ... und für eine lange Zeit weiß man nicht, ob man angekommen ist." (Tagebuch 5.7.2020) Durch den Versuch, auf der Suche nach einem Körper-zu-Hause am Heilungsprozess zu arbeiten, erhoffe ich mir Erkenntnisse darüber, wie eine persönliche intime Erfahrung mit alltäglich erlebten Erzählungen in Verbindung gebracht werden kann. Wie erzählen wir unsere Erfahrungen von Krankheit und Leiden? Wie verwandeln wir persönliche Lebenserfahrung zu Wissen, das zum kollektiven Gedächtnis beiträgt? Und wie kann der Begriff des Zuhauses dekonstruiert, hinterfragt und neu erfunden werden? Wo ist mein Zuhause und wo ist Ihres? |
Selbstporträts, Fotografien, 2019–20
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I Feel Like Home, It Feels Like Home, Stop-Motion-Film, 2018–20
Lost, Objekte und Fotografien, 2019
Zweiter Körper, Performance, 2020
Lebenslauf
Yvonne Buchheim (*1972 in Weimar) war 2003 mit ihrem Projekt
Die singende Stadt Stipendiatin des 9. Internationalen Atelierprogramms der ACC Galerie und der Stadt Weimar und lebte (neben Weimar, wo sie aufwuchs) in München, Belfast (Nordirland), Dublin (Irland) und Bristol (Großbritannien). Als Künstlerin und Pädagogin ist sie daran interessiert, die Rolle von Kunst im Alltag zu hinterfragen. Als interdisziplinär agierende Künstlerin arbeitet sie nicht selten in öffentlichen Kontexten, in denen sie das Publikum auf unerwartete Weise einbezieht, von der absichtlichen Teilhabe bis zur zufälligen Begegnung. In den daraus entstehenden Kunstwerken versucht sie, die komplexen Beziehungen zwischen ihr selbst, der Öffentlichkeit und der Bedeutung des jeweiligen Ortes zu ergründen. Als sie 2012 nach Kairo (Ägypten) zog, erlebte sie einen gesellschaftlichen Wandel und wurde sich ihres Lebens als Außenseiterin bewusst. Von dieser Position aus drehte sie die Kamera auf sich selbst und ließ zu, dass persönliche Erfahrungen zu einem Schrittmacher für das Entstehen ihrer neuen künstlerischen Arbeit werden. In ihrer aktuellen künstlerischen Praxis entstehen Zeichnungen und Fotografien, die in Stop-Motion-Animationen neben persönlichen Erzählungen lebendig zu werden scheinen, in denen Yvonne Buchheim über Verlust, Identität und Zugehörigkeit reflektiert. Diese intimen Themen zielen darauf ab, eine Verbindung zu breiteren sozialen Anliegen herzustellen, die den Fokus auf unser Selbstbild in einer fragmentierten Welt legen. Yvonne Buchheim unterrichtete zehn Jahre lang Bildende Kunst an der University of the West of England in Bristol, bevor sie 2012 nach Kairo zog, wo sie ihre Bildungs- und Kunstprojekte fortsetzte. Ihre Werke konnte sie in zahlreichen Ausstellungen der Öffentlichkeit vorstellen. Anlässlich ihrer Langzeitstudie Song Archive Project wurde sie mit der Produktion einer monografischen Publikation ausgezeichnet. Yvonne Buchheim lehrte Bildende Kunst an der American University of Cairo, bevor sie 2015 zum Cairo Institute of Liberal Arts and Sciences wechselte. 2017 war sie Co-Kuratorin von Spring Sessions, einem all- jährlichen hunderttägigen Lernprogramm mit Künstlerresidenz in Amman, Jordanien. Die Ausstellung Kopfüberleben in den zwanzig Räumen der ACC Galerie Weimar (400 m2) ist Yvonne Buchheims bisher umfassendste Einzelpräsentation. Tabellarischer Lebenslauf (Download)
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Was weiss Ihr Körper, Fotografien, 2019
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Gleichgewichtsübungen, Objekte, 2019–20.
The Present Rearranges the Past, fotografische Serie, 2019
Abstraktes Heilen, Zeichnungen, 2019–20
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Ein Brief an meinen Körper, Performance, 12:28min, 2021
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